Das große Ganze sehen - Warum Systemdenken ein Schlüssel zur Lösung komplexer Probleme ist

Interview

Ein Experten-Interview mit den Prozesswerk-Trainern Bastian Stühler und Jakob Schmidt-Colinet zum Thema Systemdenken. 

Der Begriff System ist vielen Menschen geläufig, unter Umständen verwenden wir ihn sogar mehrmals täglich, in unterschiedlichen Situationen mit ganz verschiedenen Absichten. Wir sprechen von Ökosystemen, Planetensystemen, Bildungssystemen oder Wirtschaftssystemen, um nur einige Beispiele zu nennen. Was versteht man eigentlich unter dem Begriff System und was bedeutet es in diesem Zusammenhang in Systemen zu denken?

Bastian: Von einem System spricht man, wenn einzelne Elemente eine bestimmte geordnete Beziehung zueinander aufweisen und durch diese gegenseitigen Wechselwirkungen in einem bestimmten Zusammenhang als gemeinsames Ganzes gesehen werden können. Das Systemdenken (engl.: System Thinking) ist die daraus resultierende Denkweise, die sich mit der Analyse und Verbesserung insbesondere von komplexen Systemen befasst.

Welche Ziele verfolgt demnach das Systemdenken?

Bastian: Beim Systemdenken geht es darum, das große Ganze zu sehen. Durch die Konzentration auf das Gesamtsystem und den enthaltenen Beziehungen der Elemente zueinander und nicht nur auf einzelne Komponenten kann man besser verstehen, wie verschiedene Teile des Systems miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Dieser ganzheitliche Ansatz ermöglicht es uns, effektivere Lösungen für Probleme zu erarbeiten.

Jakob: Das Systemdenken ist demnach eine iterative Segmentierungsmethodik, um einerseits vom Einzelnen auf das “Ganze” und andererseits aus einem Großen in kohärente Einzelheiten skalieren zu können. So kann also eine Problemstellung aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, daraus einzelne Teilaufgaben abgeleitet und gelöst werden, auf die sich Teams wiederum im Einzelnen konzentrieren können, ohne dabei ihr direktes und indirektes Umfeld außer Acht zu lassen. Die Schnittmengen der Teams lassen sich dann systematisch bilden, deren Variablen und Konstanten ebenso ableiten und behandeln.

Die Herausforderung ist dabei, eine Systematik beim inneren Perspektivenwechsel zu behalten: Betrachte ich gerade “meinen” Teilaspekt, wie hängt dieser mit dem großen Ganzen zusammen, welche Wechselbeziehungen bestehen dabei, und worauf setzen wir im jeweiligen Austausch den Fokus.

Warum ist das Systemdenken in der heutigen Zeit so wichtig und wofür wird es angewendet?

Bastian: Bereits heute leben wir in einer zunehmend komplexen und vernetzten Welt, in der Probleme und Herausforderungen selten isoliert voneinander betrachtet werden können. Das Systemdenken hilft uns zum einen, die Wechselbeziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Elementen eines Systems zu verstehen, um in der Folge die Ursachen von Problemen identifizieren und angehen zu können. Wenn Probleme als großes Ganzes analysiert werden, fördert das Systemdenken Nachhaltigkeit und Resilienz, indem es die langfristigen Folgen unserer Entscheidungen und Handlungen berücksichtigt.

Diese generische Beschreibung zeigt uns auch direkt die möglichen Anwendungsbereiche des Systemdenkens. Es kann nämlich in allen uns bekannten Branchen und Disziplinen eingesetzt werden, nämlich genau immer dann, wenn wir ein Werkzeug benötigen, um durch die Komplexität und Unsicherheiten unserer modernen Welt zu navigieren. Gleichzeitig müssen wir uns beim Systemdenken nicht zwangsläufig auf technische Systeme beschränken. Auch Geschäftsprozesse können als System verstanden und mittels Systemdenken optimiert werden, indem wir die Ineffizienzen zwischen den einzelnen Bestandteilen analysieren.

Habt ihr ein Beispiel zur Hand, an dem ihr das Systemdenken und dessen Bedeutung für die Herausforderungen unserer Zeit näher erläutern könnt?

Bastian: Ein aktuelles Beispiel ist der öffentliche Personennahverkehr. Das Transportsystem, das notwendig ist, um uns von einem Startpunkt A zu einem Zielort B zu bringen, besteht aus verschiedenen Interessengruppen. Als einzelne Elemente definieren Fahrgäste, Transportunternehmen, Verkehrsmittel- und Kontrolleure, staatliche Regulierungsbehörden und Infrastrukturanbieter erst durch ihre Wechselwirkungen zueinander das Transportsystem.

Indem wir das Systemdenken nun auf das Transportsystem anwenden, überlegen wir uns, wie sich Änderungen in einem Systemelement auf andere Systemelemente und auf das Transportsystem als Ganzes auswirken könnten. Beispielsweise könnte die Einführung neuer Verkehrsregeln zu einer Änderung des Verkehrsflusses führen, was sich wiederum auf die Häufigkeit und Zuverlässigkeit öffentlicher Verkehrsmittel und die Zufriedenheit der Fahrgäste auswirken könnte.

Durch die ganzheitliche Betrachtung des Transportsystems und die Berücksichtigung der gegenseitigen Abhängigkeit seiner Systemelemente kann das Systemdenken dabei helfen, potenzielle Probleme, unabhängig davon, ob sie gesellschaftlicher, technologischer oder politischer Natur sind, besser zu verstehen und zu analysieren. Entscheidungsträger können in der Folge Verbesserungsmöglichkeiten erkennen und in die Lage versetzt werden, effektivere und nachhaltigere Lösungen zu entwickeln.

Das Systemdenken sorgt demnach für ein klares Verständnis komplexer Zusammenhänge und in der Folge auch für eine ganzheitliche, analytische Problemlösung.

Bastian: Genau, richtig angewendet, zerlegt das Systemdenken ein auf den ersten Blick komplexes Problem in seine Bestandteile. Durch die Analyse der Wechselwirkungen können die Grundursachen des Problems identifiziert und effektive Lösungen entwickelt werden. Durch die Betrachtung eines Problems aus verschiedenen Blickwinkeln ermutigt das Systemdenken uns dazu, über den Tellerrand hinauszublicken und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Dieser Denkansatz fördert eine effektive Kommunikation und Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams.

Wie unterscheiden sich Design Thinking und Systemdenken?

Bastian: Lasst uns zunächst mit den Gemeinsamkeiten beginnen: Sowohl das Design Thinking als auch das System Thinking sind holistische Ansätze, die für die Problemlösung eine ganzheitliche Perspektive einnehmen, um die Zusammenhänge innerhalb des Gesamtkontextes zu berücksichtigen. Damit geht einher, dass das Systemdenken, ebenso wie das Design Thinking, die kreative Problemlösung fördert.

Jakob: Im Unterschied zum Design Thinking, das eher durch Kreativität als Treiber geprägt ist, fokussiert das Systemdenken dabei eher die dem Entwicklungsgegenstand zugrundeliegende Transparenz.

Was sollte man noch über Systemdenken wissen?

Jakob: Auch wenn es auf den ersten Blick einfach erscheint, bedarf die konkrete Umsetzung von Systemdenken in einem Projekt. Typische Stolpersteine sind wie eingangs betont die Herausforderung, die Systematik der eigenen geistigen Perspektive zu sehen, was oftmals durch Biasing, also unbewusste Annahmen und Voraussetzungen, beeinträchtigt wird. Daraus resultieren nicht selten in zunächst einfach anmutenden Gesprächszielen plötzlich völlig unterschiedliche Sichtweisen, Begrifflichkeiten und Vorgehensweisen.

Was empfehlt ihr unseren Leserinnen und Lesern, die noch mehr über das Systemdenken erfahren möchten?

Wer mehr über das Thema Systemdenken erfahren möchte, den verweise ich gerne an unsere Schulungsakademie . Unsere Grundlagenschulung „Systems Engineering“ vermittelt neben den theoretischen Grundlagen des Systemdenkens auch Erfahrungswerte, wie die praktische Anwendung gelingen kann. Nach dem Motto „Aus der Praxis für die Praxis“ nutzen unsere Trainer hierbei die Synergien zwischen Projektarbeit und aktiver Wissensvermittlung, indem sie ihre persönlichen Erfahrungen aus der täglichen Projektarbeit themenbezogen an die Schulungsteilnehmer weitergeben.

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